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Religiöses Leben

Ein Bericht von Johann Kasper

Für mich ist es ein besonderes Erlebnis in einer vollbesetzten Kirche einen Gottesdienst mitzufeiern. Das ist jetzt seltener möglich als es zur Zeit meiner Kindheit und Jugendzeit war. Besonders in den Dörfern um Hoyerswerda gehörte es zur Selbstverständlichkeit, dass Vertreter der Familien den sonntäglichen Gottesdienst in der damaligen Stadtkirche und nach 1945 in der Kreuzkirche besuchten. Leider ist diese Tradition in den letzten vierzig Jahren weitestgehend verloren gegangen. Der sonntägliche Gottesdienstbesuch ist in der Mehrzahl der Familien zur Ausnahme geworden. Was ist der Grund? Sicherlich war Gewohnheit ein Vater dieser Tradition, aber auch Zeiten der Kargheit und der Not. Man bedenke, der erste Weltkrieg, die Nachkriegsnot, die Weltwirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit als Folgeerscheinung, die Zeit des Faschismus und ihre besonderen Erscheinungen in unserem sorbischen Gebiet, die Kriegsjahre mit ihrer Sorge um Mann und Sohn an der Front, und dann wieder die schweren Nachkriegsjahre, haben sicherlich eine stärkere Bindung zur Kirche bewirkt. Es scheint, dass nicht nur sozialistische Antireligionspropaganda sondern auch Zeiten des Sattseins und des Wohlstandes, was vor allem in der Gegenwart deutlich wird, ein Abrücken von der christlichen Religion, zumindest von ihrer Kirche, bewirken.

Trotz dieser Erscheinungen ist in den sorbisch geprägten Dörfern des ehemaligen Kreises Hoyerswerda die Verbundenheit zu unserer evangelischen Kirche stärker als in den Städten. Nach Siegmund Musiat in "Volksleben, Volksfrömmigkeit und Volksbrauch in der Lausitz" und nach anderen Quellen war die christliche Missionierung ab dem 9. Jahrhundert in unserem Gebiet ein äußerst schwieriges Unterfangen. Der an Götter des Himmels, der Atmosphäre und der Erde befestigte Glaube erwies sich als sehr ausdauernd. Missionare und Chronisten im Gefolge der siegreichen fränkisch-deutschen Heere beklagten sich einst bitter über die Halsstarrigkeit der Neubekehrten, über Tücken und heimliche heidnische Ansichten und Handlungen. Dennoch war ihnen die Religiosität und Gastfreundschaft nicht abzusprechen. Die volle innere Öffnung zur christlichen Botschaft war nur nach und nach zu erreichen.

Aber im Laufe der Jahrhunderte erwies sich die sorbische Lausitz für die neue christliche Lehre als ein sehr fruchtbarer Boden. Die durch Sprache, Bodenständigkeit und fast einheitlich bäuerliche Bevölkerung und relative Abgeschiedenheit erzeugte eine eigenständige Religiosität. Diese äußerte sich in festen Regeln des Kirchganges, der Verbindung von wichtigen Lebensereignissen, wie Geburt, Taufe, Hochzeit, Tod und Totengedenken, mit religiösen Ritualen. So wurden Verhaltensregeln, Gebete und übliche Lieder von Generation zu Generation weitergegeben. Die Beschreibung der Regeln zu diesen besonderen Anlässen ist an dieser Stelle nicht vollständig möglich. Ich will aber den sonntäglichen Kirchgang in unserer Familie beschreiben. Eine Vorbemerkung ist notwendig. Meine Eltern und meine beiden Großmütter wechselten sich beim Kirchgang wöchentlich ab.

Zu den besonderen Feiertagen besuchten alle Familienmitglieder den Gottesdienst. Ab meinem achten Lebensjahr begleitete ich meine Eltern fast regelmäßig beim Kirchgang. Wenn Vater und Mutter dran waren, gab es oft Aufregungen. Vater stand mit beiden Fahrrädern vor dem Hoftor und rief immer wieder nach der Mutter. Diese hatte mit dem vielen Kleinvieh bis zum letzten Moment zu tun gehabt. Wenn sie dann fast außer Atem ihr Fahrrad übernahm, war es schon höchste Zeit, um noch pünktlich in die Kirche zu kommen. Jedesmal beschwor Vater sie, das nächste Mal die Zeit besser einzuteilen. Mutter versprach es, doch in zwei Wochen wiederholte sich derselbe Ablauf. Mit meinen beiden Großmüttern gab es diesen Ärger nicht. Schon eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes standen sie mit ihren Fahrrädern bereit. Vater prüfte noch einmal den Luftdruck an diesen, und dann fuhren sie los. Gemächlicher als die Eltern, denn die eine Großmutter hatte ein Dreirad und die andere ein Fahrrad ohne Freilauf. Trotzdem waren sie eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes an der Kirche. Das war auch ihre Absicht, denn dort traf man Verwandte und Bekannte aus dem gesamten Kirchenspiel. Die eine Großmutter hielt Ausschau nach ihrem Sohn und der Schwiegertochter aus Bergen, die andere nach Bekannten aus dem ehemaligen Dorf Laubusch, das der Kohle wegen nicht mehr existierte. Für Eltern und Großmütter war der Gottesdienstbesuch nicht nur eine willkommene Abwechslung in ihrem einzelbäuerlichem Dasein, sondern auch ein wirkliches Bedürfnis. Denn sie wussten, dass ihr Leben Gnade ist, Gesundheit und Gedeihen für sie selbst, ihre Kinder, für Vieh und Feldfrüchte nicht selbstverständlich sind.

Erwähnenswert sind die Grußformeln, die vor und nach dem Gottesdienst gewechselt wurden. Sie widerspiegeln meines Erachtens die tiefe Religiosität, die in unseren Dörfern zu finden war. Man verabschiedete sich zum Kirchgang von den Daheimgebliebenen mit den Worten:

"Ja du netko kemši - dajco mi wase žohnuwanje" ("Ich fahre jetzt zur Kirche - gebt mir euren Segen"). Die Antwort lautete: "Džice ses božim žohnuwanjom" ("Geht mit Gottes Segen"). Gingen die Kirchgänger zum Abendmahl, so baten sie: "Ja du d?ensa spojedzi - wodájce mi" ("Ich gehe heute zum Abendmahl - vergebt mir"). Die Antwort lautete dann: "Džice ses božim žohnuwanjom - a wodaj wam bóh" ("Geht mit Gottes Segen und vergebe Euch Gott"). Die Kirchgänger wurden wieder zu Hause, mit dem Gruß: "Wotkemšow witaj?e" ("Seid gegrüßt vom Kirchgang") begrüßt.

Zur Erklärung muss gesagt werden, dass in der sorbischen Umgangssprache mit dem "Du" sparsamer umgegangen wird. Eltern und Großeltern werden mit "Ihr" angesprochen. Damit wird die Ehrfurcht vor diesen zum Ausdruck gebracht. Die Bitte um Segen und Vergebung vor dem Kirchgang ließ manche harten Worte der arbeitsreichen Woche ungesagt sein und baute so manche Spannung ab. Eine weitere Besonderheit bezüglich der Kirchgangstradition war die sonntägliche Hausandacht. Die Kirchgänger hatten die Aufgabe, den Daheimgebliebenen die Epistel und das Evangelium vorzulesen und die Kerngedanken aus der Predigt zu vermitteln. Nicht selten wurde der Herr Pfarrer auch mit kritischen Worten bedacht. Eine Aufgabe, die Unaufmerksamkeit im Gottesdienst nicht zuließ. Ich hatte während der Hausandacht Mitsprache- und Fragerecht. Ab dem Konfirmandenalter hatte ich die Pflicht, die Hausandacht zu gestalten.